Die umkämpfte Republik
Die am 12. November 1918 ausgerufene Republik (Deutsch-)Österreich stand für etwas gänzliches Neues: Dem Wandel der Staatsform sollte ein tiefgehender gesellschaftspolitischer Wandel entsprechen. Die bisherige soziale und politische Elite, zu einem Gutteil aus Hocharistokratie, katholischem Klerus und Armee entstammend, musste eine drastische Erschütterung ihrer bisherigen Position hinnehmen. Auf der anderen Seite erfuhren Vertreter der Arbeiterbewegung eine deutliche Aufwertung. Gerade die bislang marginalisierten Gesellschaftsschichten sahen mit dem Zusammenbruch der k. u. k. Monarchie die Möglichkeit zur Etablierung eines neuen politischen und gesellschaftlichen Systems. Nicht zufällig fallen in die Frühzeit der Republik, als die Angst vor einem kommunistischen Umsturz tagespolitische Brisanz aufwies, wesentliche sozialpolitische und arbeitsrechtliche Errungenschaften wie die Einführung des Achtstundentages, die Etablierung der betrieblichen Mitbestimmung durch das Betriebsrätegesetz oder die flächendeckende Ausdehnung der staatlichen Arbeitslosenunterstützung.
Angesichts der wirtschaftspolitisch und finanziell äußerst angespannten Lage in den ersten Nachkriegsjahren kamen Zweifel an der Lebensfähigkeit Österreichs als eigenständiges Land auf. Die wirtschaftliche Stabilisierung Anfang der 1920er Jahre fand jedoch keine Entsprechung in einer politischen Deeskalierung. Politisch standen sich bereits zu diesem Zeitpunkt die politischen Lager – organisierte Arbeiterbewegung auf der einen, bürgerliches Lager auf der anderen Seite – auf gesamtstaatlicher Ebene weitgehend unversöhnlich gegenüber. Im Zuge der politischen und ideologischen Zuspitzung traten die Bereitschaft wie die Fähigkeit zur konsensualen Konfliktlösung zunehmend in den Hintergrund.
Menschenauflauf in der Klosterstraße im November 1918.